VON DER SCHÖNEN MÖGLICHKEIT, DEM BETRACHTER DEN KOPF ZU VERDREHEN
von Andreas Bee
Text für den Ausstellungskatalog ANIMA, Städtische Galerie Villingen - Schwenningen, Februar 2007
I.
Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort.
Sie sprechen alles so deutlich aus:
Und dieses heißt Hund und jenes heißt Haus,
und hier ist Beginn und das Ende ist dort.
Reden wir noch nicht von der Kunst, beschränken wir uns zunächst auf die Erfahrung, dass Formen Ausdruck und Träger spezifischer Energien sein können.
Erinnern wir uns daran, dass das wirklich Erstaunliche am Bild seine Fähigkeit ist, emotional-körperliche Reaktionen hervorzurufen. Konzentrieren wir uns also auf jene eigentümlichen und nicht selten überraschenden, letztlich ganz und gar unberechenbaren Kräfte, die ein Bild verströmen kann.
Rufen wir uns ins Bewusstsein, dass all diejenigen, die Bilder machen, solange sie an ihnen arbeiten, in einer scheinbar verkehrten Welt leben, in der sich alles Formale zum Inhaltlichen und alles so genannte Inhaltliche zum bloß Formalen wendet.
Bedenken wir nicht zuletzt, dass persönliche Erlebnisse in erster Linie mit Bildern verknüpft sind, so lässt sich vielleicht mit Fug behaupten: Vom Standpunkt desjenigen, der mit Worten arbeitet, sind die meisten Erinnerungen stumm, eben weil sie zum größten Teil aus Bildern bestehen. Wer also über Bilder spricht, sollte sich im Klaren sein, dass er spricht und damit auswählt, und dass die sprachliche Form nur eine der vielen Seiten dessen ist, was wir Wahrheit nennen.
II.
Mich bangt auch ihr Sinn, ihr Spiel mit dem Spott,
sie wissen alles, was wird und war;
kein Berg ist ihnen mehr wunderbar;
ihr Garten und Gut grenzt grade an Gott.
Indem wir für Bilder Worte finden, tun wir etwas hinzu. Sprache kommt hinzu. Lässt sich überhaupt, so wird man sich also fragen, ein tiefes, auf Erfahrung begründetes Wissen aus dem Umgang mit Werken der Kunst in Worte fassen? Das Verhältnis von Wort und Bild bleibt kompliziert, denn so wie das Dunkel sich nicht hinreichend als die Abwesenheit von Licht beschreiben lässt, so kann das Bild nicht einfach als Gegensatz des Wortes begriffen werden, sondern als nur das Andere, als etwas, das eigenen Gesetzen gehorcht, Gesetzen, die sich allein in der Anschauung kundtun. Um das Bild in seinen Besonderheiten zu erleben, benötigen wir also eine Form des Wissens, die das Besondere des Werkes im Akt des Betrachtens anerkennt und wahrt, eine Form, die das Bild nicht zu erklären und sein Geheimnis nicht zu beseitigen sucht. Denn das, was ein Bild letztlich ausmacht, ist eben nicht das, was sich in Worte fassen lässt, sondern das, was sich zunächst einem auratischen Spüren offenbart.
III.
Ich will immer warnen und wehren: Bleibt fern.
Die Dinge singen hör ich so gern.
Ihr rührt sie an: Sie sind starr und stumm.
Ihr bringt mir alle die Dinge um.
Dennoch und allen Warnungen des jungen Rilkes zum Trotz sollten wir uns nicht abhalten lassen, wenigstens den Versuch zu unternehmen, uns ein wenig von dem zu erzählen, was wir in den Bildräumen von Sabine Finkenauer erleben können. Von den Bildern scheint eine sanfte, aber nachhaltig wirkende Anziehung auszugehen, eine Kraft, die Lust macht, die eigene Wirklichkeit zu verlassen und den dargebotenen Raum der Kunst zu betreten. Was uns lockt, ist das Aroma einer Welt, die uns in Kindertagen wohl vertraut war. Finkenauers Bilder öffnen einen Kanal zu jener Zeit, als das Wünschen und Träumen noch geholfen hat. Sie verströmen eine Atmosphäre, die von einem leichteren, unbeschwerteren Sein kündet. Wollen wir da tiefer hinein, so müssen wir einen Weg finden, wie wir eindringen können. Wer sich auf dieses Abenteuer einlässt, sollte nicht vergessen, dass er das Werk nicht nur einmal betritt, sondern dass er den vorhandenen oder imaginären Rahmen des Bildes jeweils zweimal durchschreiten muss. Sonst ist er verloren, wie jener chinesische Kunstliebhaber, der sich derart intensiv in eine gemalte Landschaft vertiefte, dass man seither nie mehr etwas von ihm gehört hat. Nur wenn wir das Bild betreten und auch wieder verlassen, können wir die Erfahrung, die wir innerhalb dieser künstlichen Welt gemacht haben, mit in die eigene nehmen und davon berichten. Das gilt auch für den Künstler, der, solange er arbeitet, im Bild ist und sich hier nicht verlieren darf wie einst der Maler Frenhofer in Balzacs berühmter Novelle, der sich ebenfalls derart obsessiv in ein Bild versenkt, dass er sich schließlich verliert und damit auch die Möglichkeit zurückzukehren in die andere, konkretere Welt, aus der er kam.
Stellen wir uns also vor, wir steigen wie ein Einbrecher durch ein Fenster in den Raum der Kunst ein. In dem Augenblick, wo wir die Schwelle überschreiten, wo wir die Seiten wechseln, verschwindet der Rahmen zum ersten Mal. Befinden wir uns im Bild, dann dürfen wir für eine Weile vergessen, woher wir kamen. Ja, wir sollen sogar für kurze Zeit ganz und nicht nur mit den Augen aufgehen in der künstlichen Sphäre, die uns für eine Weile real erscheinen wird. Nur lange verweilen können wir hier in der Regel nicht. Zu instabil ist meistens das Konstrukt. Früher oder später ruft uns die Realität wieder zurück. Wir steigen abermals durch das Fenster, durch das wir eingestiegen waren. Und nun verschwindet der Rahmen mit dem Ausstieg aus der künstlichen Welt und dem Wiedereinstieg in die reale Welt zum zweiten Mal.
IV.
Eine mehr oder weniger klare, manchmal aber auch ausgesprochen diffuse Erinnerung an das im Bildraum Erlebte allerdings bleibt uns stets erhalten. Sie erlaubt es uns, auch noch unter den härteren und stabileren Bedingungen einer durch Kausalitäten bestimmten Welt des allgemeinen Handelns und Verhaltens beispielsweise jenen Resonanzraum der Kleiderbilder aufzurufen, vor dem diese wie wundertätige Reliquien einer nur noch schemenhaft rekonstruierbaren Heilslegende erscheinen. Das dies so ist, lässt sich noch lange deutlich nachempfinden, aber kaum wirklich ergründen. Die Welt, von der Sabine Finkenauers Bilder Zeugnis ablegen, erschließt sich eher über Geschichten, als über das klassische Argument.
Wenn, wie Boris Groys es einmal ausgedrückt hat, die kommentierenden Texte die Kunstwerke wie Kleider umhüllen und schützen, dann sind die Kleiderbilder im Kontext der Mädchen-, Wald-, Baum- und Architekturbilder von Sabine Finkenauer den Teilen einer Erzählung vergleichbar, in der der Erzählende durch den Hinweis auf die Konstellation der einzelnen Elemente das große Ganze zu umschreiben sucht. Im Netz der Bezüge ahnt man möglicherweise ein Idealbild, dessen Konkretisierung aber niemand wirklich wünschen kann, weil dieses Bild von einer Dichte wäre, die, wie ein schwarzes Loch, alles Licht verschlucken würde.
V.
Zu den stark nachhaltig wirkenden Werken von Sabine Finkenauer gehört zweifellos die Serie der Mädchenbilder. Ob die mit "Prinzessin", "Schlafende", "Mädchen im Wald", "Mädchen mit Tür", "Mädchen mit Wand" oder auch nur mit "Langes Haar" bezeichneten Malereien auch noch von etwas anderem künden, als von einer fragilen Existenz hinter den Schall schluckenden Schleiern eines Traumvorhangs, liegt an dem, was der Betrachter an persönlichen Dispositionen bereithält. Handelt es sich bei den Mädchen um feinstoffliche Seelenwesen, um phantasmagorische Spiegelungen einer gröberen Parallelwelt? Ist die massiv wirkende, blockhafte Tektonik ihres Körperbaus wirklich solide? Werden die Bildräume als voll oder als leer empfunden? Wie verhält es sich mit dem "Klima" der Szenen? Finkenauers Bilder sind von wohltuender Ambivalenz, sie erscheinen wie Belege für die Existenz des Möglichkeitssinnes, den Robert Musil aus der Existenz des Wirklichkeitssinnes ableitet. Finkenauer will, wie alle mit diesem Sinn begabten Menschen, gleichsam den Wald, wo die, mit dem bloßen Wirklichkeitssinn behafteten Betrachter nur die Bäume sehen. Der Wald aber, schrieb Robert Musil, das ist etwas schwer Ausdrückbares, wogegen Bäume soundsoviel Festmeter bestimmter Qualität bedeuten.
VI.
Wer dem Möglichkeitssinn eine Chance gibt, dem wird es bei den Bildern von Sabine Finkenauer so ergehen, wie dem Reisenden, der sich dem Magnetberg aus dem orientalischen Märchen nähert. Gerät man einmal in seinen Umkreis, wird man angezogen und bleibt für lange Zeit kleben. Derart gebannt wird man sich unwillkürlich fragen, wie es kommen kann, dass die Bilder so anziehend und unverwechselbar sind? Was verleiht ihnen diese magische Kraft, ganz gleich, ob es sich um die Darstellung von Gärten, Blumen, Bäumen, Mädchen, Kleidern, Puppen oder Architekturen handelt? Vielleicht kann man es mit einem einziges Wort sagen: Anima. Verstehen wir heute noch, was damit gemeint ist?
Einstmals war die Seele "Hauch", "Lebensatem", den Gott in Adams Nase blies. Andere verstanden darunter eine Kraft, die zusammenfasst, denn Wahrnehmungen und Vorstellungen, purzeln nicht in uns herum wie die Griechen im Trojanischen Pferd, sie werden durch die Macht der Seele zu Erkenntnis verbunden. Seele ist also Einheit der Erkenntniselemente. Seele kann auch als etwas gedacht werden, dass die Natur antreibt. So verstanden hat dann alles Lebendige eine Seele, auch Pflanzen und Tiere. Seele, das ist das Gestaltungsprinzip eines Leibes, welches sich im Kunstwerk äußert.
Wie auch immer. Wenn es stimmt, wie es Heinz von Foerster einmal formuliert hat, dass der Hörer und nicht der Sprecher die Bedeutung eines Satzes bestimmt, dann kann jeder Sprechende immer nur hoffen, dass der andere ein wenig von dem versteht, was er selbst glaubt gesagt zu haben.
Den Bildern von Sabine Finkenauer scheinen derartige Probleme vollkommen fremd. Sie erwecken den Eindruck, als ginge sie das alles gar nichts an. Nur manchmal will es uns so erscheinen, als würde der lichte Schatten eines leisen Lächelns über ihre Oberfläche huschen. Dann beschleicht uns der Verdacht, als hätten sie eine gewisse Freude daran, dem Betrachter den Kopf zu verdrehen.